ANF NEWS, Mustafa Çoban, Qamişlo, 01. Juli 2021
Die Cross-Border-Hilfe als Lebensader für Nordostsyrien
Am 10. Juli läuft ein Mandat aus, das die Lieferung von UN-Hilfen am Assad-Regime vorbei nach Syrien erlaubt. Der einzige Grenzübergang in den Nordosten wurde bereits Anfang 2020 geschlossen. Die Autonomieverwaltung fordert die Wiedereröffnung.
Anfang 2020 wurde mit einem Veto von China und Russland der einzige Grenzübergang für UN-Hilfen in den Nordosten Syriens geschlossen, Hilfsgüter der Vereinten Nationen gelangen seitdem nur noch mit Genehmigung des Regimes in das Autonomiegebiet. Moskau verspricht sich durch die Instrumentalisierung der Hilfe zu Lasten der Bevölkerung eine Stärkung seines Verbündeten Baschar al-Assad und eine Schwächung der Autonomieverwaltung.
Für die selbstverwalteten Gebiete hatte dieser Schritt fatale Konsequenzen. Die ohnehin schon schwierige Versorgungslage wurde dramatisch zugespitzt, seit der Schließung des Übergangs fehlen dem Nordosten über 70 Prozent der Hilfslieferungen. Von den medizinische Lieferungen sind seitdem nur eine Handvoll in die Region gelangt, aber nur auf alternativen Wegen, obwohl die Gesundheitseinrichtungen mit einem Mangel an Medikamenten konfrontiert sind sowie kaum Medikamente und Ausstattung zur Verfügung haben, die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie benötigt werden.
Regime zweigt Hilfsgüter ab
Die Resolution war aber nicht nur wichtig, um die Umsetzung humanitärer Maßnahmen zu verbessern. Sie war auch notwendig, weil das Assad-Regime kein verlässlicher Partner bei der Versorgung von Hilfsbedürftigen in den Autonomiegebieten ist und Hilfsgüter abzweigt. Das gilt auch für Idlib, das sich nach wie vor außerhalb der Kontrolle der syrischen Armee befindet. Am 10. Juli läuft das seit 2014 bestehende Mandat für UN-Hilfen vorbei am Regime aus. Russland hat bereits signalisiert, das endgültige Ende des Mechanismus vorzubereiten.
Kriegsparteien bestimmen über Hilfslieferungen
Bis Anfang letzten Jahres waren insgesamt vier Grenzübergänge offen für den UN-Mechanismus in Gebiete, die nicht vom Regime kontrolliert werden – verankert in der UN-Resolution 2156 zur grenzüberschreitenden humanitären Hilfe (Cross-Border-Hilfe) für Syrien. Doch dann ließ Russland im Januar den Grenzübergang Yarubiyah (ku. Til Koçer) an der syrisch-irakischen Grenze schließen, sowie den Hilfskorridor über Jordanien im Süden. Im Juli wurde dann auch der Übergang Bab al-Salameh im Nordwesten geschlossen. Der einzige noch offene Grenzübergang ist Bab al-Hawa, über den Hilfslieferungen die syrische Provinz Idlib erreichen. Seitdem bestimmen zwei direkte Kriegsparteien noch mehr als in den letzten Jahren bei der Verteilung von Hilfsgütern in Syrien mit: Ankara und Damaskus. Der internationale Einfluss auf die humanitäre Versorgung in dem Land, in dem seit zehn Jahren Krieg herrscht, schwindet mehr und mehr.
Grenzüberschreitende Lebensadern aufrechterhalten
Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Hilfseinrichtungen aus der Region sowie internationale Organisationen fordern den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schon länger auf, die massiven Versorgungsengpässe abzuwenden und durch die Wiedereröffnung von geschlossenen Übergängen grenzüberschreitende Lebensadern aufrechtzuerhalten. Die Bevölkerung bräuchte nicht weniger humanitäre Hilfe, sondern mehr und vor allem auf dem direkten Weg. Die Schließung des Grenzübergangs Yarubiyah sollte als wichtiges Negativbeispiel für die kommende Entscheidung dienen. In den von Krieg und Besatzung gebeutelten Autonomiegebieten leben mehr als fünf Millionen Menschen. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung (1.300.000 Millionen) setzt sich aus Binnenvertriebenen zusammen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Vertriebene: „Schutz“ in kriegszerstörten Ruinenlandschaften
Ein Großteil der Geflüchteten wohnt in kriegszerstörten Ruinenlandschaften und verlassenen Dörfern, über 135.000 Menschen leben in offiziellen Zeltstädten. Mit sechs an der Zahl befinden sich die meisten Lager in der Cizîrê-Region. In zwei der insgesamt fünfzehn größeren Camps sind Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) untergebracht (Hol und Roj). Etwa hundert informelle Lager sind über das gesamte Autonomiegebiet verstreut und werden von der Selbstverwaltung und dem Kurdischen Roten Halbmond (Hevya Sor a Kurd) allein betrieben, da es sich nicht um anerkannte UN-Camps handelt. Zwar sind internationale Hilfsorganisationen im Nordosten von Syrien aktiv, ihre Kapazitäten reichen aber nicht aus, um den Bedarf zu decken. Zudem werden täglich weitere Menschen durch Kriegshandlungen der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten in die Flucht getrieben. Die größte Vertreibungswelle löste vor dreieinhalb Jahren mit über 450.000 Geflüchteten die Besatzung von Efrîn aus. Die Invasion in Serêkaniyê und Girê Spî trieb gut 350.000 Menschen in die Flucht. Die Autonomieverwaltung ist mit ihrer Versorgung hoffnungslos überfordert. Wir veröffentlichen eine aktuelle Übersicht der Flüchtlingslager im nordostsyrischen Autonomiegebiet:
Camp Hol
Etwa 45 Kilometer östlich der Stadt Hesekê liegt das Camp Hol. Die Zeltstadt wurde Anfang 1991 während des Zweiten Golfkriegs vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) für maximal 10.000 irakische Flüchtlinge errichtet. Nachdem es zwischenzeitlich geschlossen war, wurde das Lager im Zuge der US-Invasion im Irak 2003 wiedereröffnet. Mit Beginn der Syrienkrise besetzte die Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) das Camp und machte es zu einer wichtigen Einrichtung seiner Schreckensherrschaft. Im Oktober 2015 wurde es von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) befreit und befindet sich seither unter der Kontrolle der Selbstverwaltung. Derzeit beherbergt Hol gut 60.000 Menschen aus rund 50 verschiedenen Ländern in acht verschiedenen Abschnitten. Unter ihnen befinden sich nach derzeitigem Stand 8.519 IS-Angehörige, die nach der Einnahme der letzten IS-Bastion Baghouz von den QSD aufgegriffen wurden. Hinzu kommen 30.738 irakische Flüchtlinge (8.256 Familien) und 21.324 Schutzsuchende (5.684 Familien) aus den verschiedensten Regionen Syriens.
Camp Roj
Das Camp Roj bei Dêrik wurde im Juni 2015 eingerichtet. Zunächst beherbergte es Binnenvertriebene aus dem Raum Hesekê, die vom IS geflohen waren, zwischenzeitlich hielten sich dort auch hunderte Familien aus dem nordirakischen Mosul auf. Inzwischen leben nur noch IS-Angehörige in dem Lager. Die meisten der insgesamt 2.681 Bewohner:innen sind aus dem europäischen Ausland.
Camp Waşokanî
Das Auffanglager Waşokanî liegt etwa zwölf Kilometer westlich von Hesekê und wurde im November 2019 in Rekordzeit errichtet. Das Camp ist in drei Abschnitte aufgeteilt und beherbergt aktuell 14.714 Menschen (2.373 Familien), die im Zuge der Invasion aus den Städten Serêkaniyê, Zirgan, Girê Spî und Til Temir vertrieben wurden.
Camp Serêkaniyê
Das Camp Serêkaniyê für Vertriebene aus der gleichnamigen Stadt, die heute in der illegalen Besatzungszone der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten liegt, befindet sich im Osten von Hesekê. Es wurde im August 2020 als Auffanglager für Menschen errichtet, die nach der Besatzung von Serêkaniyê im Großraum Hesekê in Innenhöfen, verlassenen Moscheen und Kirchen sowie öffentlichen Gebäuden, vor allem in Schulen unterkamen. Das schränkte den Bildungsbetrieb erheblich ein. In der kleinen Zeltstadt leben heute insgesamt 11.135 Menschen (2.160 Familien).
Camp Newroz
Das Camp Newroz liegt am Stadtrand von Dêrik. In dem Lager lebten bis vor einer Weile noch ezidische Familien, die 2014 von der PKK und den YPG durch einen freigekämpften Fluchtkorridor vor dem IS vom Şengal-Gebirge in Südkurdistan (Irak) gerettet wurden. Seit Oktober 2019, nachdem die Ezid:innen nach Şengal zurückgekehrt waren, wohnen im Newroz-Camp von der Türkei vertriebene Menschen aus Serêkaniyê und Girê Spî. Nach derzeitigem Stand beträgt die Zahl der Bewohner:innen 1.616 (258 Familien).
Camp Erîşa
Das Erîşa-Camp liegt etwa 30 Kilometer südlich von Hesekê und wurde ursprünglich für Binnenvertriebene aus (früheren) Regimegebieten wie etwa Deir ez-Zor und Raqqa errichtet. Aktuell leben dort 14.073 Menschen (2.815 Familien), viele davon aus Ostsyrien. Rund ein Viertel der Bewohner:innen hielt sich bis zur letzten Invasion Rojavas in Camp Mabruka nahe Serêkaniyê auf. Kurz nach Beginn des Angriffskrieges wurde das Geflüchtetenlager von den Besatzungstruppen bombardiert. Daraufhin hat die Selbstverwaltung rund die Hälfte der mehr als 7.000 Menschen in das Erîşa-Camp evakuiert.
Die Lager in Raqqa, Tabqa und Minbic
In Raqqa, Tabqa (auch ath-Thaura) und Minbic finden sich neben fünf regulären Flüchtlingslagern auch dutzende kleinere informelle Ansiedlungen, verstreut über die ländlichen Gebiete.
Camp Girê Spî (Tell Samin)
Das Girê-Spî-Camp wurde im Dezember 2019 in der Nähe der Gemeinde Tell Samin etwa 35 Kilometer nördlich von Raqqa errichtet. Es wird von 3.754 Menschen (735 Familien) bewohnt, die von der Türkei aus Girê Spî vertrieben wurden.
Camp Mahmudi
Das Camp Mahmudi bei Tabqa wurde für syrische Binnenvertriebe aus Regimegebieten gegründet. Momentan leben dort 8.501 Menschen in 1.770 Zelten. Die meisten Bewohner:innen stammen aus Aleppo, Hama, Homs und Deir ez-Zor.
Altes Ostcamp Minbic
Im alten Ostcamp Minbic leben Menschen, die vor Kriegshandlungen in den östlichen Teilen des Gouvernements Aleppo flüchten mussten. Die Zahl der Bewohner:innen beträgt momentan 1.875 (384 Familien).
Neues Ostcamp Minbic
Im neuen Ostcamp Minbic sind ebenfalls Binnenvertriebene aus Aleppo sowie der Umgebung untergekommen. Dort sind es derzeit 3.337 Menschen, die in 606 Zelten ums Überleben kämpfen.
Die Lager in Şehba und Efrîn
Seit der Invasion in Efrîn und der Besetzung des ehemals selbstverwalteten Kantons im Nordwesten von Syrien 2018 ist die für das Zusammenleben unterschiedlicher religiöser und ethnischer Identitäten berühmte Region zu einem Ort der Unterdrückung und Verfolgung geworden. Rund eine halbe Millionen Menschen, darunter etwa 150.000 Binnenflüchtlinge, wurden von der türkischen Armee und den mit ihr verbündeten Dschihadistenmilizen vertrieben. Ein Großteil strandete im benachbarten Kanton Şehba, der vom Krieg bereits zerstört und vom IS großflächig vermint worden war. Bis heute halten sich etwa 200.000 Efrîn-Vertriebene in Şehba auf, die meisten leben in unzulänglichen, baufälligen Häusern in vormals entvölkerten Ruinendörfern. Etwa 16.000 Vertriebene wohnen in Zeltstädten.
Das älteste und größte Flüchtlingslager in Şehba ist das Camp-Berxwedan. Es wurde am 23. März 2018 in der Gemeinde Fafîn eröffnet. Im nahegelegenen Dorf Til Sosin befindet sich das Camp Serdem. Der Kreis Ehdas beherbergt das Efrîn-Camp, das auf ihren eigenen Wunsch hin für die Nomaden gebaut wurde, sodass sie ihre eigenen Besonderheiten beibehalten könnten. Das Şehba-Camp wurde im Dorf Der Cemal aufgebaut. Ein weiteres Lager gibt es im benachbarten Şêrawa, einem nicht vollständig von der Türkei besetzten Kreis, der zu Efrîn gehört: das Camp Veger im Dorf Ziyaret.
Geschlossene Lager
Ain-Issa-Lager: Das Camp Ain Issa war im April 2016 für Vertriebene aus Raqqa am nordwestlichen Stadtrand gegründet worden. Mit dem finalen Sturm der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) auf die letzte vom IS gehaltene Enklave Baghouz wurden ab Februar 2019 immer mehr Evakuierte aus der Region im Flüchtlingslager Ain Issa untergebracht. Das ursprünglich für wenige tausend Menschen errichtete Camp beherbergte zuletzt über 13.000 Personen. Am 13. Oktober 2019 wurde es von der türkischen Armee kontrolliert bombardiert. In der Folge konnten etwa 800 Insassen, die in einer eigenen Sektion für hochgefährliche IS-Dschihadisten bewacht worden waren, entkommen. Kurz darauf wurde das Lager aufgegeben.
Jadidat al-Hamar-Lager: Das im Zuge der letzten großen Offensive des syrischen Regimes auf Idlib Anfang 2020 gegründete Auffanglager Jadidat al-Hamar im gleichnamigen Dorf etwa 25 Kilometer südlich von Minbic war für 300 Familien errichtet worden. Am 1. Juli wurde es geschlossen, nachdem die meisten Menschen nach Idlib zurückkehren konnten.