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Kobanê

Die Stadt Kobanê, Hauptstadt des gleichnamigen Kantons, ist weltweit bekannt geworden durch den Überfall und die erbarmungslose Belagerung des selbsternannten „Islamischen Staates“ (IS) im September 2014, vor allem aber durch den entschlossenen Widerstand der Bevölkerung und ihrer Verteidigungskräfte YPG und der Fraueneinheiten YPJ (siehe z.B. Wikipedia: Schlacht um Kobanê). Ihr Widerstand war ein Kampf für Menschen-rechte, Demokratie und eine freie, selbstbestimmte Zukunft. Über diese Phase wurde auch in unseren Medien intensiv berichtet. Seit Januar 2015 ist die Stadt zwar mit Hilfe internationaler Unterstützung vom IS befreit, wurde aber zu 80 Prozent zerstört. Um die Rückkehr der Menschen zu verhindert, hat der IS außerdem unzählige Minen und Sprengfallen in Häusern und Feldern hinterlassen. Internationale Unterstützung in der Wiederaufbauphase ist bis heute allerdings weitgehend ausgeblieben. Aus eigener Kraft versucht die lokale Bevölkerung seither die städtische Infrastruktur, Wasser- und Stromversorgung wieder herzustellen. Aber es mangelt außerdem an Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung. Gleichzeitig kehren immer mehr Menschen in den Kanton zurück um sich aktiv am Wiederaufbau zu beteiligen, aber auch aufgrund der unmenschlichen Zustände in den Flüchtlingslagern der Türkei.

Der Wiederaufbau von Kobanê ist nicht nur eine materielle Notwendigkeit, sondern hat auch große symbolische Bedeutung im Kampf gegen den IS, wird allerdings durch die fehlende Anerkennung der internationalen Gemeinschaft und die Blockade der Staaten in der Region nicht nur erschwert, sondern aktiv behindert.

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Rojava

Die heutige „Autonome Föderation Nordsyrien-Rojava“ benennt den mehrheitlich von KurdInnen bewohnten Landstrich im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei und umfasst die drei Kantone Afrin, Kobanê und Cizire.

Mit Beginn des syrischen Aufstands 2012 und der anschließenden Vertreibung des Assad-Regimes aus Rojava hat die lokale Bevölkerung dort gemeinsam ein System der Selbstverwaltung aufgebaut, das ethnische und konfessionelle Grenzen überwindet. Das Gemeinwesen wird per Konsens regiert und sichert Frauen eine gleichberechtigte Teilhabe in allen wichtigen Entscheidungsgremien der Verwaltung zu. Bis zu den brutalen Angriffen des selbsternannten „Islamischen Staates“ (IS) auf den Kanton Kobanê und seine gleichnamige Hauptstadt im September 2014, konnte der syrische Bürgerkrieg weitgehend aus den Dörfern und Städten Rojavas rausgehalten werden. Innerhalb der heutigen „Demokratischen Föderation Rojava – Nordsyrien“ leben etwa 2 Millionen Menschen und zurzeit noch einmal knapp die gleiche Anzahl Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien und dem Sindschar-Gebirge im Nord-Irak.

Während eigens gegründete Selbstverteidigungs- und Polizeieinheiten die selbstverwalteten Gebiete nach außen gegen die Bürgerkriegsparteien sichern sollen, ist es das erklärte Ziel im inneren eine friedliche Gesellschaft auf Basis direkter Demokratie und rechtsstaatlicher Prinzipien aufzubauen. Grundlage dieses basisdemokratischen Projekts ist die Verfassung, die sich die drei Kantone 2014 gemeinsam gegeben haben, die sowohl die Wahrung der Menschenrechte eines jeden und die Achtung religiöser und kultureller Ausdrucksfreiheit der verschiedenen Ethnien und Gruppen der Region garantiert, aber insbesondere auch die Gleichstellung von Männern und Frauen und weitgehende Kinderrechte festschreibt. Am 17. März 2016 wurde durch eine Versammlung von kurdischen, arabischen, assyrischen, aramäischen und turkmenischen Delegierten die Autonome Föderation Nordsyrien – Rojava ausgerufen. Das de facto bestehende Autonomiegebiet wird bislang völkerrechtlich nicht annerkannt.

Der Gesellschaftsvertrag

Die Revolution von Rojava steht im krassen Kontrast zu den monistischen Staaten des Mittleren Ostens, die auf eine Identität, eine Nation und eine Sprache und eine Religion setzen und jede Abweichung diskriminieren oder gar zu vernichten versuchen. Rojava umfasst viele Ethnien, viele Identitäten, viele Religionen und Weltanschauungen und zielte von Beginn der Revolution darauf ab, durch direkte Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen ein Modell von pluralistischer, radikaler Demokratie zu schaffen. Dieses Denken schlägt sich auch im Namen wieder – Rojava ist ein kurdischer Name, doch die Demokratische Föderation Nordsyrien repräsentiert nicht nur Kurdinnen und Kurden, daher reichte die ursprüngliche Bezeichnung der Region nicht aus. Die Demokratische Föderation Nordsyrien grenzt sich von Staatlichkeit und Nation scharf ab, was sich auch in der Präambel des Gesellschaftsvertrags niederschlägt.

Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie stehen als Grundprinzipien gleich am Anfang des Gesetzeswerkes. Insbesondere die Hervorhebung der lokalen Selbstverwaltung der Menschen in Räten und zivilgesellschaftlichen Organisationen hebt dieses Werk von anderen Verfassungen deutlich ab. Im Rahmen des Gesellschaftsvertrages haben alle Menschen in den Kantonen das Recht, über ihre eigenen Anliegen zu entscheiden: Die Macht liegt in der Region und nicht im Zentrum. Das gibt der Bevölkerung die Möglichkeit, sich selbst zu repräsentieren und über ihr Leben zu entscheiden.

Auch menschenrechtlich ist dieser Vertrag beispielhaft. So dürfen Asylsuchende nicht gegen ihren Willen abgeschoben werden und jeder Bürger und jede Bürgerin haben das Recht auf medizinische Versorgung, Arbeit und Wohnraum. Sicher ist es ein langer Weg, bis eine Realität geschaffen ist, in der die Menschen ihre im Gesellschaftsvertrag verankerten Rechte vollkommen in Anspruch nehmen können. Dass die Menschen in Nordsyrien in dieser Situation ein solche Verabredung treffen und sich auf ein solches Dokument einigen, untermauert die immense Bedeutung ihres Projekts – Friede bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern gesellschaftliche Versöhnung, Demokratie, Ökologie, Frauenbefreiung und soziale Gerechtigkeit.

Die Demokratische Föderation Nordsyrien sieht sich ganz klar im Kontext einer zukünftigen Demokratischen Föderation Syrien – jenseits des Baath-Regimes und imperialistischer Einflussnahme der Großmächte. So sollen die Bodenschätze gerecht geteilt und eine gemeinsame Verfassung ausgearbeitet werden. Dieser Gesellschaftsvertrag stellt ein Beispiel für eine mögliches friedliches Syrien der Zukunft dar und gibt Hoffnung, dass eine demokratischen Alternative zur kapitalistischen Moderne und nationalstaatlicher Barbarei in die Welt ausstrahlen kann.

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Karte: Kampagne TATORT Kurdistan, "Die acht Kantone der Demokratischen Selbstverwaltung von Nordostsyrien", Mai 2020