Null Unterstützung

Die Bundesregierung fördere Diktatoren, nicht aber junge Demokratien, kritisiert eine Delegation hessischer Vereine, die im Juni Kobani besuchte. Von Gitta Düperthal

Es war eine Reise, die sie nie vergessen werden: »Wir sind beeindruckt, wie schnell die Menschen dort ein basisdemokratisches, fortschrittliches Projekt umsetzen «, so Thomas Lutz, Gesellschafter der »Welle Jugend- und Familienhilfe«, am Mittwoch gegenüber junge Welt. Mit einer Delegation von Mitgliedern des »Vereins Städtefreundschaft Frankfurt-Kobani« und der »Stiftung der freien Frauen in Rojava« (WJAR) sowie Gerhard Trabert, Sozialmediziner
aus Mainz, und seiner Kollegin Heike Karau, Kinder- und Jugendtherapeutin im von der »Welle« betriebenen »Zentrum für Traumapädagogik«, war er vom 7. bis 15. Juni in Rojava. Dieser Name ist immer noch gebräuchlich – »Demokratische Föderation Nordsyrien« nennt sich das kurdisch-multiethnische Selbstverwaltungsgebiet jedoch seit März 2016 offiziell.

Die Hanauer Sozialarbeiter haben mit 25 dortigen Lehrern ein Schulprogramm für die unter den Kriegsfolgen leidenden Kinder in Kobani entwickelt. Viele haben Eltern oder Angehörige im Kampf gegen »Daesch« verloren, wie der »Islamische Staat« (IS) auf arabisch abgekürzt wird. In der Schule litten sie oft unter Konzentrationsschwierigkeiten oder hätten »Flashbacks«, durchlebten also brutale Kriegsszenen noch einmal im Kopf, erklärt Lutz. Das Bildungsministerium – wie alle dortigen Institutionen mit einer Doppelspitze aus einer Frau und einem Mann besetzt – sei dabei, 1.200 Lehrer umzuschulen. Sie sollen nach dem Erleben eines autoritären Systems, das mit Drohungen und Schlägen arbeitete, angstfrei lernen können. Bildungsministerin Nesrin Kenan engagiere sich sehr dafür, so Lutz.

Viele der etwa 100.000 Einwohner Kobanis, die bislang zurückgekehrt sind, lebten noch in Trümmern oder Containern; so wie 14 Frauen, deren Männer im Kampf gegen Daesch starben, mit ihren 44 Kindern. Ihnen sei aber mitgeteilt worden, dass Wohnungen für sie im Bau seien. Überall in der Stadt werde gebaut; auch das Waisenhaus, das unter anderem der Verein Städtefreundschaft Frankfurt-Kobani mit Spenden von bislang 70.000 Euro gefördert habe. Der Rohbau steht, aber immer wieder müssten Baumaßnahmen unterbrochen werden, weil Materialien fehlten. »Wieso hat die deutsche Bundesregierung noch keinen
Sack Zement zum Aufbau der zerstörten Stadt geschickt, obgleich die jungen Leute der YPG/YPJ den Kopf im Kampf gegen den IS hinhalten, zur Zeit um dessen Hochburg Rakka – auch für die europäischen Demokratien, wo Anschläge der Terrormiliz stattfinden? « fragt Lutz mit Blick auf die Volks- und Frauenverteidigungskräfte. Auch der Ausbau des demokratischen Bildungssystems werde von Berlin nicht unterstützt.


Trotz des Kriegszustands bauten die Menschen dort eine Gesellschaft auf, die die Gleichstellung der Geschlechter, Ethnien und Religionen fördere – eine Seltenheit im Nahen Osten. Statt Solidarität und Unterstützung hagele es aber in der BRD nur Verbote, etwa das, die Fahnen von YPG und YPJ zu zeigen. Das verstünden die Menschen dort nicht. Die Delegation fordert die Bundesregierung auf, Druck auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan auszuüben. Ankaras Wirtschaftsembargo, das mit einer derzeit 650 Kilometer langen Mauer an der türkischen Grenze zu Nordsyrien durchgesetzt wird, müsse aufgehoben werden. »Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung ständig alte Diktatoren unterstützt, nicht aber junge, fortschrittliche Menschen«, sagt Lutz.


Auf Nachfrage war am Donnerstag aus den Büros der für Syrien zuständigen Bundesabgeordneten der Grünen – Cem Özdemir, Omid Nouripour und Franziska Brantner – zu hören, sie planten eine Anfrage an die Bundesregierung für den 1. Juli: Auch die Grünen wollten wissen, warum die Bundesregierung ausgerechnet die demokratische Föderation Rojava und das zerstörte Kobani nicht mit Bau- und Schulmaterialien unterstützt, sagte ein Sprecher. »Welle«-Mitarbeiterin Karau vermisst »ein parteiübergreifendes Netzwerk im Bundestag, das sich für die Menschen in Rojava und Kobani stark macht, damit das Entwicklungs- oder das Außenministerium sie fördert: »Als Anerkennung für deren Einsatz gegen den IS und für die Demokratie.«

Die junge Welt hat der Rojava-Region am 26.06.2017 eine Schwerpunktseite gewidmet: