Wir bedanken uns für die freundliche Publikationsgenehmigung der Zeitschrift „11 Freunde“!

Fußball in Rojava

Keimzelle des Widerstands

Bereits seit 2016 besteht Rojava als Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Auch deutsche Ultras unterstützen den Versuch, eine neue Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Doch das Projekt und mit ihm der Fußball in der Region sind in Gefahr.
 

Es ist ein vergleichsweise warmer Wintertag in der nordsyrischen Grenzstadt Qamischli. Im und vor dem Stadion des 7. April haben sich tausende Menschen versammelt. Vier Männer tragen einen Sarg. Er ist in den kurdischen Nationalfarben Gelb-Rot-Grün geschmückt. Vorn prangt ein großer Fußball. In dem Sarg liegt Kefo Osman, ehemaliger Trainer und maßgeblicher Förderer des Fußballs in der 200.000 Einwohner fassenden Stadt in der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Eine Woche nach der Beerdigung ist in Deutschland in der Jenaer Südkurve ein Spruchband zu lesen: „Rojava verteidigen heißt Freiheit verteidigen!“, steht darauf. „Gegen den türkischen Angriffskrieg! Ruhe in Frieden, Kefo, Trainer der Hoffnung.“

Vor allem sich selbst als links definierenden Ultragruppe zeigten in den vergangenen zehn Jahre immer wieder Slogans wie „Freiheit für Rojava!“, „Defend Rojava!“ oder Fahnen in den kurdischen Nationalfarben. Rojava wird der von Kurden dominierte Teil Nord- und Ostsyriens genannt, der seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 eine De-Facto-Unabhängigkeit aufgebaut hat und unter der Führung kurdischer Milizen selbstverwaltet wird. Das Projekt Rojava ist für viele antiautoritär-subkulturelle Linke Vorbild und Projektionsfläche zugleich. „Hier entsteht gerade eine funktionierende Selbstverwaltung ohne Staat mit den Grundpfeilern Basisdemokratie, Religionsfreiheit, Befreiung der Frau und Ökologie“, sagt etwa Marie vom Jenaer Verein Hintertorperspektive. Die Organisation ist aus der Südkurve des FC Carl Zeiss entstanden und setzt sich für einen integrativen und weltoffenen Fußball ein – wozu für Marie ganz selbstverständlich auch die Solidarität mit der Selbstverwaltung gehört. Diese bündele aktuell die wohl fortschrittlichsten Kräfte innerhalb Syriens.

Autonomie in Gefahr

Doch die Autonomie in Nord- und Ostsyrien ist gefährdeter denn je. Seit dem Sturz des Machthabers Assad – unter dem der Konflikt beinahe eingefroren war – nutzt der religiös-rechte türkische Präsident Erdoğan das entstandene Machtvakuum und fliegt zusammen mit der verbündeten „Syrische Nationalarmee“ Luftangriffe auf das Gebiet. Erdoğan ist die Selbstverwaltung der Kurden zuwider. Zur türkischen Staatsideologie zählt die Einheit der Nation – und die sieht der Machthaber gefährdet – durch ein kurdisch selbstverwaltetes Gebiet in seinem Hinterhof und die kurdische Bevölkerungsmehrheit im Südosten der Türkei, die womöglich auf ähnliche Gedanken kommen könnte. Zudem pflegen die kurdischen Milizen in Nord- und Ostsyrien Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Vergangenheit für zahlreiche Anschläge in der Türkei verantwortlich war. Deshalb versucht er innen- wie außenpolitisch die kurdische Bewegung zu unterdrücken, die in der Vergangenheit vom Westen unterstützt wurde und nun vom NATO-Mitglied Türkei mit Luftangriffen übersät wird.

Ein Ziel dieser Luftangriffe ist die Dauermahnwache an der Tişrîn-Talsperre, bei der etwa hundert Menschen versuchen, die Zerstörung der Talsperre und somit das Abschneiden der Energie- und Trinkwassergrundlage von einer halben Million Menschen zu verhindern. Bei einem dieser Angriffe am 18. Januar wurde auch Kefo Osman getötet. „Er war schon lange vor Rojava die Schlüsselfigur im Fußball in Qamischli und hatte unglaublich viel Liebe für den Sport und die aufstrebenden Spieler in der Region“, sagt Bozan Berkel, Co-Vorsitzender des Sportkomitees von Nord- und Ostsyrien.

Fußballhochburg und Keimzelle des Widerstands

Die Stadt an der türkischen Grenze ist die Fußballstadt schlechthin in der Region. Schon vor dem Krieg stellte sie mit al-Dschihad einen gesamtsyrischen Erstligisten und damit einen Leuchtturm für den Fußball in Kurdistan. Unter Assad galt Qamischli als Hochburg der kurdischen Befreiungsbewegung und al-Dschihad somit als deren Vertreter auf dem Rasen. Im Jahr 2004 eskalierte die seit Jahrzehnten angespannte Lage der Kurden nach einem Spiel gegen den aktuellen syrischen Meister Al-Fotuwa aus der Islamistenhochburg Deir ez-Zor endgültig. Nachdem Gästefans antikurdische Parolen gerufen hatten, griffen die Fans aus Qamischli sie an. Es kam zu schweren Ausschreitungen auf Rasen und Rängen, die sich schließlich auf die gesamte Stadt übertrugen und zum Aufstand gegen das Assad-Regime heranwuchsen. Nachdem das lokale Büro der Assad-treuen Baath-Partei niedergebrannt wurde, reagierte das Regime mit erbarmungsloser Brutalität und schoss auf die Protestierenden. Bei den Unruhen kamen über 30 Menschen ums Leben. Auch 2012 beim Arabischen Frühling war Qamischli eine der Keimzellen der Revolution, und beim anschließenden Bürgerkrieg wurde die Stadt ein Teil der kurdischen Autonomie Rojava. Doch im Fußball blieb die Einheit Syriens bestehen, zumindest formal.

Al-Dschihad spielte weiterhin im syrischen Ligensystem mit – trotz Krieg und der De-Facto-Unabhängkeit Rojavas. „Das eigentliche Ziel der Selbstverwaltung ist auch gar nicht die Unabhängigkeit, sondern die Schaffung eines föderalen Syriens, indem den verschiedenen Ethnien umfangreiche Autonomierechte gewährt werden“, erklärt ein Vertreter der Gruppe „riseup4rojava’“, ein Zusammenschluss von internationalen kurdischen Solidaritätsorganisationen. In Rojava leben nicht nur Kurden, sondern auch Assyrer, Araber und Turkmenen. Der höherklassige Fußball blieb auch aufgrund dieser Tatsache trotz der Zersplitterung des Landes in der Spätphase des Assad-Regimes eine der wenigen Brücken zum syrischen Zentralstaat. Al-Dschihad war ein wichtiges Identifikationsmerkmal für die gesamte Region und als mit Abstand bestes Team weiterhin Teil der syrischen Liga – wenn auch seit dem Abstieg 2018 nur noch unterklassig. Doch in den Spielklassen darunter organisierte sich Rojava bereits selbst. So gab es neben einer obersten Liga für die Gesamtverwaltung auch Bezirksligen als Unterbau. Und im Hintergrund laufen bereits Pläne für eine weitere Abspaltung.

„70 Prozent unseres Spielbetriebs sind momentan eingestellt“

Bozan Berkel, Co-Vorsitzender des Sportkomitees von Nord- und Ostsyrien

„Wir haben konkrete Pläne für eine eigene Auswahlmannschaft und 2024 stand sogar schon ein erstes Team. Das ist sehr wichtig für uns, da der Fußball dabei hilft, eine Kommunikation zwischen den Ethnien herzustellen und die Identifikation für die Heimat und damit auch die Selbstverwaltung zu stärken. Doch dadurch, dass die Selbstverwaltung offiziell nicht anerkannt ist, haben wir keine Möglichkeit international zu spielen“, erklärt Bozan Berkel die komplizierte Gemengelage. In der Vergangenheit führte das dazu, dass gute Spieler aus der Region wie Aias Aosman (früher u.a. bei Dynamo Dresden und Jahn Regensburg) oder Mohammed Osman (u.a. Heracles Almelo) auch nach Beginn des Bürgerkriegs 2011 für die syrische Nationalmannschaft aufliefen. Diese ist nach dem Sturz Assads und der unklaren Situation in allen staatlichen Strukturen momentan nicht mehr aktiv und spielte letztmalig im November in Wolgograd gegen Assadss langjährigen militärischen Verbündeten Russland. Auch die Liga wurde nach der Novemberoffensive und dem anschließenden Sturz Assads abgebrochen. Wie es im syrischen Fußball weitergeht, entscheidet sich in den kommenden Wochen und Monaten.

Auch in Rojava herrscht diesbezüglich Unklarheit, nicht nur im Fußball. Die Region befindet sich wieder im Kriegszustand. Mit der Türkei und – so befürchten viele – zukünftig auch mit der syrischen Zentralregierung, die wenig Interesse an einem autonomen Nord- und Ostsyrien zeigt. „70 Prozent unseres Spielbetriebs sind momentan eingestellt. Vielerorts haben die Jugendlichen in den Mannschaften Verantwortung in Sachen Sicherheit übernommen und sind bereit, ihre Dörfer und Viertel gegen die türkischen Angriffe zu verteidigen“, weiß Berkel. So wie es auch Kefo Osman, der Trainer aus Qamischli, bei der lebensnotwendigen Tişrîn-Talsperre tat.

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